
Bedingungslos
6. Dezember 2025
Weihnachtsmärchen
6. Dezember 2025Die Nacht stellt keine Fragen
Wenn es dunkel wurde und die Nacht begann dann konnte sich der Zauber zeigen. Wenn Anna es zuließ. So wie jetzt. Dann konnte er sich entfalten und sichtbar werden. Spürbar werden. Denn die Nacht fragte nicht nach richtig oder falsch. Sie verlor sich nicht in Bewertungen, oder verstrickte die Träumenden in moralische Kategorien.
Wenn die Nacht begann, verloren die Gesetze des Tages mit dem Einbruch der Dunkelheit ganz langsam ihre Konturen. Bis sie sich vollkommen aufgelöst hatten. Und das, was auch jenseits des Lichts immer schon seine Gültigkeit hatte, in den Vordergrund trat.
In jeder Nacht lag die Einladung sich ihr anzuvertrauen. Und wenn man ihr vertraute, wenn man unbeirrt den Weg mit ihr ging und den Mut hatte, ihr zu folgen, dann entpuppte sie sich nicht als Suchende. Denn die Nacht suchte nicht. Die Nacht war die Meisterin des Findendes. So wie es in ihrer Natur angelegt war. Sie fand, was bereits vorhanden war, was schon bestanden hatte als es noch hell war und bevor man sich auf den Weg gemacht hatte.
Die Nacht mit ihrer Dunkelheit, die jedem Kind mit dem Einschlafen die Türen öffnete, hinter denen alles sein durfte. Hinter denen sich die Freiheit offenbarte und alles, was in der Welt der inneren Räume zu Hause war. Auch wenn es von den Erwachsenen bei Licht betrachtet, reglementiert und abgelehnt oder unterdrückt worden wäre. Oder im Sinne einer gerechten Bestrafung Gefahr laufen konnte, mit dem Entzug der Liebe bedroht zu werden.
In der Dunkelheit der Nacht war alles erlaubt. Alles war möglich, wenn man sich nur traute, sich auf sie einzulassen. Wenn man den Mut hatte, sich auf sich selbst einzulassen und sich die Erlaubnis dazu gab. Die Erlaubnis, den Raum zu betreten, in dem alles beheimatet war. Alles, was sich in den Herzkammern nach Erfüllung sehnte. In Freiheit und Frieden und in der Liebe nach Erfüllung sehnte.
Im fließenden Übergang zwischen Wachen und Schlafen öffneten sich still und sachte die Türen. Und als sie eingeschlafen war, überschritt Anna die Schwelle und betrat den Raum ihrer Träume. Sie träumte sich in den Raum hinein, bis sie ihn ganz in Besitz genommen hatte. Bis sie ihn selbst ganz erfüllte und selbst die Fülle war. Raumerfüllende, raumerfühlende Inbesitznahme. Raum und Heimat für alles was Anna ausmachte.
Ihr Schlaf war tief und ruhig und ihre Träume offenbarten sich wie reife Früchte in einem
liebevoll gepflegten Garten. Früchte, die sich ihr schenkten und die nur von ihr gekostet werden wollten. Die schon von Anfang an in ihr angelegt waren. Und die sich ihr jetzt offenbarten … jetzt, nachdem sie so lange gereift waren … in Anna gereift waren …
In Annas Leben war die Zeit des Sichtbar-Werdens angebrochen. Des Sichtbar-Werdens der Liebe. Ihrer Liebe. Nach all den Jahre in denen sie auf der Wegstrecke durch ihr Leben fast unbemerkt gereift waren und sie begleitet hatten und nur darauf gewartet hatten, von ihr entdeckt und in ihrer Bestimmung erkannt zu werden.
Annas Begegnung mit Tom war der Anfang gewesen. Der Anfang, sich selbst zu erkennen. Sich durch ihn zu erkennen. So, wie auch er durch die Begegnung mit ihr sich selbst erkannt hatte. Es bedurfte keiner Abstimmung, keiner klärenden Auseinandersetzung, keiner erhellenden Diskussion oder irgendeiner Form der Wahrheitsfindung. Ihr Herz und ihr Geist, ihre Seele und ihr Tempel waren wie gute Freunde in ihrem Ja vereint. Vereint in einem sich öffnenden, alles durchströmenden „Ja“.
Als sie am Morgen erwachte, spürte sie, wie tief sie geruht hatte. So als wäre sie in der tiefen Entspannung ihres Schlafes ganz weit weg gewesen. Weit weg und doch ganz nah bei sich. Als wäre ihre Mitte zugleich der Ausgangspunkt und das Ziel ihre Reise in die Ferne gewesen. So als wäre sie in ihrem tiefen Schlaf ins entfernteste Innerste ihrer selbst gereist. In den Raum, in dem die Ferne und die Nähe in ihr zu Hause waren.
Anna fühlte sich stark und kraftvoll. Nein, sie war stark, stark und voller Kraft. Sie öffnet ihre Augen, räkelte sich genüßlich und streckte ihre Arme über ihren Kopf. Dann blieb sie noch eine Weile auf dem Rücken in ihrem Bett liegen. Sie genoß diesen Zustand und liess ihn noch ein bisschen in sich nachklingen. Wann hatte sie das letzte Mal so tief geschlafen? Sich so fallen lassen in den Himmel der Nacht? Vielleicht in ihrer Kindheit, wenn sie sich ganz frei und unbeschwert und sich so ganz in sich und im Leben geborgen gefühlt hatte.
Alles war gut. Alles fühlte sich gut an … und auch der Geist stimmte zu. Wenn es in Liebe geschah, war alles gut und alles war gut, wenn es aus Liebe geschah. Anna spürte die Stimmigkeit in sich. Ihre Liebe zu Tom und ihre Liebe zu Carol war ihre Liebe. Sie war nicht geteilt. Sie liess sich nicht trennen. Ihre Liebe war ihre Liebe und ihre Beziehungen waren ihre Beziehungen. Jede für sich hatte ihre Gültigkeit. Jede für sich hatte ihre Einzigartigkeit, ihre ganz eigene Bedeutung und ihr Würde und Schönheit. Auch wenn die innere Übereinstimmung das Dilemma im Äußeren nicht aufzulösen vermochte, so fühlte es sich jetzt im Zustand der Bewusstheit ihrer Liebe die sie in sich trug, in ihrem Inneren wie aufgelöst an. Nachdem sie aufgestanden und ins Bad gegangen war, sah sie in den Spiegel. Ihr Gesicht war freundlich und weich. Und es war, als wollten sie all die liebevoll erfüllenden Empfindungen der Nacht wie gute Freunde durch den Tag begleiten.
Kurze Zeit später stand Anna in ihrem Morgenmantel in der Küche. Sie bereitete ein Frühstück für Carol und sich. Sie deckte den Tisch, kochte Kaffee, holte die Pfanne aus dem Schrank, stellte sie auf den Herd und machte ihm Rührei mit Speck. Schnittlauch … Nebenbei toastete sie das Brot, so wie er es gerne mochte. Aus den kleinen Lautsprechern kam ihre Musik … Musik die sie mit Tom teilte … sie hörte sie, während sie das Frühstück für Carol und sich vorbereitete … und sie spürte das es gut war so wie es war … Es gab keinen Verrat … die Liebe verriet sich nicht gegen die Liebe … die Liebe war immer Liebe … da wo sie war … war sie das was sie war …
Als Carol die Küche betrat war er erfreut und erstaunt. Er hatte den Duft schon im Treppenhaus wahrgenommen. „Ich wollte dich überraschen und dir eine Freude machen“ sagte Anna mit einem Lächeln in ihrer Stimme, drehte sich zu ihm, sah ihn an, packte ihn mit beiden Händen an seinen muskulösen Oberarmen und küsste ihn, noch bevor er irgendetwas sagen konnte, kraftvoll auf den Mund. „Ich danke dir …“
Anna spürte ihre Liebe in sich und sie wollte sie Carol schenken und sie mit ihm teilen. Wie gerne hätte sie ihm von ihrer Liebe zu Tom erzählt … die unabhängig von ihm und ihrer Liebe zu ihm existierte … ihm, ihrem vertrauten Begleiter durchs Leben … aber niemals wollte sie ihn verletzten … und diese Gefahr stand gnadenlos und unerschütterlich im Raum … aber schenken und teilen war möglich … gut möglich und schön und aufrichtig zugleich …
Carol war beständig und zuverlässig. Ein in sich ruhender Mann. „Das Lied ist schön“ bemerkte er, der sich sonst nicht sonderlich für Musik interessierte. „Wer singt da?“ fragte er und Anna antwortete ihm … und sie freute sich, dass es ihm auch gefiel.
Ihre Liebe zu Carol war ihre Liebe zu ihm. Sie spürte, wie gut es war ihn zu haben … und ihre Liebe zu Tom war ihre Liebe zu Tom … beides fühlte sich gut und richtig an …
Aber Anna spürte auch, wie gut es war, in ihrer Liebe zu sein … und wie mit dem Erwachen ihrer Liebe, auch ihre Liebe und ihre Zärtlichkeit zu Carol wieder erwacht war … und wie schön es war, in ihrer Liebe ganz sie selbst zu sein … frei und liebend und ganz im Frieden mit sich und der Welt …
